Die Medienkritik aus Schlagzeilen 78


WIR LEBEN ... SM
Geli
 Stahl, GerhardWir leben ... SM! Ein Dokumentarfilm

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Bee, Matthias und Jan


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WIR LEBEN ... SM – Ein Dokumentarfilm




Stahl, Gerhard
Wir leben ... SM!
Frühling 2004. Ein Film zieht durch Deutschland. Gerhard Stahl, bekannter Dokumentarfilmmacher, zieht mit Beamer und Leinwand durch SM-Locations und kleine Kinos. Unter den Rundbögen des Café Sittsam sind die schweren Lederbänke, die sonst an den Seiten stehen, zu Kinoreihen arrangiert. Auf der Bühne verdeckt die Leinwand den Domina-Thron. Die zweite Vorstellung beginnt gleich. Die Zuschauer der ersten schwappen in den Gastraum und diskutieren angeregt bei einem neuen Bier den Film. SMer unter sich.

Für uns ist dieser Film eigentlich nicht gemacht, sondern für den normalen Menschen auf der Straße. Genau für die, die sich nach Beantwortung der Frage: »Was ist SM?« eilig von der Kamera abwenden oder lachend das Weite suchen.

»Mit diesem Film möchte ich den Zuschauern die Augen öffnen. Die meisten Menschen haben völlig falsche Vorstellungen von der SM-Szene, hauptsächlich bedingt durch die einseitige und reißerische Berichterstattung in den Medien«, sagt Gerhard Stahl, der Macher von »Wir leben ... SM«.

Mehr als ein Jahrzehnt nach »Das soll Liebe sein?«, einer Dokumentation über uns von den Schlagzeilen, die in der Reihe »Unter deutschen Dächern« von Radio Bremen produziert wurde, gibt es eine neue Doku, die uns SMer endlich mal wieder so zeigt, wie wir wirklich sind, und nicht als Monstrositäten-Kabinett der Abartigkeiten. Der Film hält sich ganz an das SSC: Safe, Sane & Consensual – sicher, vernünftig und nur mit dem Einverständnis des Partners – und gibt einen betont sachlichen Einblick in die Stuttgarter Szene.

Der Regisseur begleitete Andreas Müller – besser bekannt als sein Alter Ego »Woschofius« – und seine damalige Partnerin Lady Isis ein Jahr lang mit der Kamera: im Alltag, im Job und privat.

Woschofius ist ein SM-Multitalent, ein Tausendsassa – er fotografiert, schreibt Geschichten und Gedichte, macht Skulpturen, komponiert Performance-Musik und veranstaltet Partys.

Auch »Lady Isis« heisst bürgerlich nicht so, sondern nur in ihrer Tätigkeit als professionelle Domina. Lady Isis liebt ihren Job, obwohl er äußerst anstrengend ist. Nebenbei choreografiert sie und tritt bei SM-Performances auf.

Gelegentlich lassen die beiden ihre Geliebte Zoë zu sich kommen, um zu dritt miteinander zu spielen. Bei einer dieser sehr privaten SM-Sessions hatte Gerhard die Gelegenheit zu filmen, und es gelang ihm ein Dokument von seltener Authentizität und erotischer Intimität. Es geht um Streicheln, Schläge, Küsse, Kerzenwachs, noch mehr Küsse, Spanking, Drohungen – und alles mit einer demonstrativen Langsamkeit, bei der die Lust aller Beteiligten deutlich zu sehen ist. Weil der Film nämlich nicht den Fehler macht, mit der Kamera auf den Körpern zu bleiben. Im wichtigsten Moment hält die Kamera auf das Gesicht, in Nahaufnahme. Denn da ist die Lust.

Zoë sagt: »Vielleicht sind wir pervers – aber wir sind nette Perverse.« Wie sie über ihre Lust an beiden Rollen spricht und die unterschiedliche Dynamik der psychischen Schmerzzufügung durch die Domina und der Züchtigung durch den Mann, macht ansatzweise auch für den Laien verständlich, was reizvoll daran sein könnte, sich bis zur Überschreitung der Schmerzgrenze in die Hände Dritter zu begeben.

Neben dieser immer wieder in Sequenzen eingestreuten Session sieht man Interviews mit allen Protagonisten, sowie die Proben zur Live-Performance von Carlos Perons »Les Salles« beim Wave-Gothik-Treffen in Leipzig 2003, die im Bonus-Material ganz zu sehen ist. Der Partyveranstalter Woschofius wird begleitet bei den Vorbereitungen zum Stuttgarter CSD und der anschließenden Party in einem Güterbahnhof. Eine japanische Bondage-Performance von Matthias Grimme ergänzt das Bonusmaterial, und der SM-Kabarettist Axel Tüting zeigt Ausschnitte aus seinem Programm – von witzig (Wie bewerbe ich mich richtig als Sklave?) bis tiefsinnig.

Die Musik zur DVD stammt von Carlos Peron, Gründungsmitglied der Musikgruppe Yello, der sich jetzt sehr erfolgreich der Fetischmusik widmet und mit dem Woschofius viele Musikprojekte verwirklicht hat.

Dankbar muß man Stahl dafür sein, dass sein Film vollkommen frei von den üblichen Psychologisierungen ist. Niemand muß in seiner Kindheit wühlen, kein »Experte« gibt kühne Theorien zu besten, warum jemand »so« wird. »Ich fühl mich einfach viel ausgeglichener im Alltag, wenn mir der Hintern versohlt wurde«, sagt die Sklavin. Der Film zeigt auch unsere Schwierigkeiten, anerkannt zu werden. Gleichbehandlung möchten wir; keine Randgruppe sein, sondern toleriert und respektiert in dem, was wir tun.

Der Kritik von Sophie und Stephanie von Lustwandel, dem erotischen Buchladen in Berlin, kann ich mich nur anschließen: »Dieser Film hat so gar nichts Sensationslüsternes. Keine Knalleffekte, aber auch keine Weichzeichnerei und falsche Romantik. Vielleicht ist es möglich, sich ein wenig über eine verwackelte Kamera zu echauffieren, man tut sich aber selbst keinen Gefallen damit. Denn so entgeht einem eine durchweg positive und sympathische Darstellung. Wir fühlten uns ein wenig an die enthusiastische und entschlossene Aufbruchstimmung der Lesben- und Schwulenbewegung Anfang der neunziger Jahre erinnert. Damals wie heute tritt eine sehr bunte, kreative und lebhafte Subkultur an die Öffentlichkeit, die deutlich zeigt, dass Liebe – in welcher Form auch immer – gar nicht Sünde sein kann. »Wir leben ... SM!« ist somit auch ein kleiner Meilenstein in der deutschen BDSM-Bewegung, denn es ist auch ein Coming-out-Film. – Unsere Empfehlung!«

Das neue Projekt von Gerhard Stahl hat den Arbeitstitel »Tabubruch« Axel Tüting im Gespräch mit SMern, die ihre BD-DS-SM-Neigungen mit ihrem normalen Alltagsleben in Einklang bringen müssen. Die Premiere ist für Ende Dezember geplant.

Stahl, Gerhard
Wir leben ... SM! Ein Dokumentarfilm
DVD, 88 min + 30 min Bonusmaterial
EUR 28,90




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