Das Vorweg (Vorwort) aus Schlagzeilen 80


Leidkultur


Neulich in einer SM-WG (lacht nicht – gibts wirklich! Wohne selbst in einer ...) irgendwo auf dem platten Land, fernab der großen Stadt. Draußen klirrte der Frost, drinnen nicht etwa Handschellen und Ketten, sondern Löffel in Teetassen. Hätte es sich bei der zu rührenden Substanz um Subbi-Herzen gehandelt, hätte mein Vorwort mehr P-Wert – wäre es Mate-Tee gewesen, würde ich meinen Bericht an dieser Stelle schamesrot abbrechen.

Es war ein wenig wie in den 80ern – nur, dass sich unsere Gespräche um TPE, SSC (mit und ohne Fun), 24/7 und dergleichen drehten, statt um KKWs, BGS, MAD und anderen Mist.

Sonst war alles, wie man es erwartet, treffen sich Mitglieder (und Mitgliedinnen) einer kleinen, radikalen Minderheit zum gemütlichen Beisammensein.

Szenen, Subkulturen jedweder Coleur scheinen den immer gleichen Mechanismen zu unterliegen, durchlaufen ähnliche Entwicklungen: So, wie die Ök-Ök-Bewegung (und alle assoziierten Strömungen) weiland Strukturen entwickelte, die jeder halbwegs ernstzunehmenden Stadt ihren 3te-Welt-Laden, die Öko-Bäckerei, das alternative Fahrradreparatur-Kombinat bescherten, können sich natürlich auch SM-Menschen, so sie in Gruppen oder Horden auftreten, nicht entbrechen, die Welt mit Verlagen, Gesprächskreisen, SM-Shops oder gar SM-Comedy-Ensembles zuzuballern, als wenn es kein Morgen gäbe.

Und das ist gut so! Tschakka! So ungefähr schwebte mir und meinen Mitradikalen damals die Welt vor. Wir hatten ja nichts (die geneigte Leserschaft möge sich an dieser Stelle einen verhärmten Nachkriegsaugenaufschlag vorstellen)! Haben quasi aus Kartoffelschalen unsere ersten Handcuffs fabriziert, uns gegenseitig die Splitter von Muttis Blumenstöckchen unter das juckende Fell getrieben!

Ja, ja – so war das damals!

Heute aber, behaglich eingenistet in der besten aller Gesellschaften zwischen Hakle-Feucht und Henkel-Trocken (Danke, Herr Reiter!), haben wir vollen Zugriff auf die Errungenschaften einer erheblich durchorganisierten Szene, in der die Schlagzeilen – als kampferprobtes Fachblatt für bundesdeutsche Leidkultur – nur ein Fragment eines beachtlichen Kaleidoskops der Möglichkeiten darstellen.

Es hat sich viel getan – waren vor den 90ern Sex-Shops, Dominastudios und Verlage, die mehr oder minder P-wertiges absonderten, noch nahezu ausnahmslos in Stino-Hand, so kann man heute fast automatisch davon ausgehen, dass es sich bei der Domina, bei der man sein Geld läßt, um einen Menschen handelt, der sein Hobby zum Beruf geadelt hat, dass das Spielzeug, in Shops oder im Netz erworben, von SM-Leuten erfunden, produziert und wahrscheinlich auch verkauft wird. SM-Literatur findet zwar in zunehmendem Maß Eingang in das Verlagsprogramm der Major-Companies, das meiste (und sicher auch authentischste) entsteht aber in immer zahlreicher der Szene entsprießenden Kleinverlagen.

Zurück zur nachmittäglichen Teestunde in der SM-WG: Nachdem alle Szenegrößen sattsam durchgehechelt, sämtliche kürzlich erlebten (oder durchlittenen) Skurrilitäten und Bizarrerien mitgeteilt und erörtert waren, passierte, was mir immer passiert: Ich bekam reichlich Gelegenheit, mich für den Inhalt und die Stoßrichtung der Schlagzeilen zu rechtfertigen.

Auch wenn ich mich in solchen Momenten immer ein wenig fühle, wie die Revolution, die von ihren eigenen Kindern gefressen wird, kann ich nicht umhin, zu gestehen, dass diese inquisitorischen Befragungen, die mich immer wieder aus meiner satten Lethargie reißen, mich nötigen (geiles Wort!), meine Haben-wir-immer-so-gemacht-Schanze zu räumen, Standpunkte zu überdenken, weiterbringen. Und meist brät, irgendwo zwischen Heiligem Stuhl und der ganz großen Scheiße, Nützliches heraus, was dann wiederum in die SZ einfließt, die ohne derartig harsches Leserfeedback längst in ihrem Elfenbeinturm dem Grimme-Preis (Pun intended!) entgegendämmern würde.

Bei der gerade geschilderten Begebenheit war es nicht anders.

Das einzige, was sie von den üblichen Leser-Tribunalen, denen ich armes Ding mich immer ausgesetzt sehe, unterschied, war die Tatsache, dass es sich bei den mir wacker zusetzenden Schergen ausnahmslos um »SM-Kulturschaffende« handelte, was zur Folge hatte, dass ich mich diesmal nicht so sehr für allfällige Verspätungen und SZ-immanente Schlampigkeiten, die angeblich ausufernde Werbeflut oder den mangelnden Rücklauf bei Kontaktanzeigenantworten entschuldigen mußte, sondern mich vielmehr der Frage ausgesetzt sah, ob es nicht langsam an der Zeit sei, sich über Lesernähe einerseits und Kulturwert der veröffentlichten Geschichten und Bilder andererseits den Kopf zu zerbrechen.

Also ehrlich! Das war früher aber anders (Neuauflage des Nachkriegsaugenaufschlags)! Sooo hoch hat man uns den Brotkorb damals nicht gehängt – froooh war man, dass wir üüüberhaupt ... Aber bevor ich endgültig in senile Weinerlichkeit abkippe, Scherz beiseite: Cool war´s. Wirklich spannend, weil es zeigt, wie sehr die Szene sich gewandelt hat, dass aus ihr längst eine echte SubKULTUR geworden ist, der nicht mehr alles heilige Kuh ist, so lange nur »SM« draufsteht.

Wie die schwule Community bietet auch die SM-Szene mittlerweile fast jede denkbare Dienstleistung und das mit erheblichem qualitativen Anspruch.

Die Vernetzung ist weit fortgeschritten: Websites wie mayday.bdsm-info.de stellen Kontakt zu Rechtsanwälten, Therapeuten und Ärzten her, der sm-finder.bvsm.de listet bundesweit Workshop-, Party- und Gesprächsgruppentermine auf – der Tag scheint nicht mehr fern, an dem es SM-Normalverbraucher möglich sein wird, von der Wohnungsrenovierung bis zur Bestattungszeremonie kompetente, sadomasochistische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Schön – vielleicht ein wenig überspitzt und eventuell, da Minderheiten eh dazu neigen, sich in ihren liebevoll handgestrickten Ghettos einzuigeln, nicht unbedingt wünschenswert. Aber nichtsdestotrotz beruhigend, wenn man bis zur Hutschnur gepierced und vielleicht frischverstriemt doch mal zum Arzt muß ... *grins*

Wie weit sich die SM-Szene mittlerweile in die Gesellschaft gefressen hat, wurde mir erst kürzlich wieder bewußt, als via E-Mail ein Lebenszeichen einer lang verschollen geglaubten Klassenkameradin in der Redaktion aufschlug – für mich das erste Mal, dass ich direkt über die Schlagzeilen wieder in Kontakt zu einem Teil meiner fernen Vergangenheit geriet. Die darauf folgenden Telefonate und ein erstes Treffen nach immerhin gut 20 Jahren waren überraschend vertraut. Nicht auszudenken, was mir das Wissen, mit meiner zu dem Zeitpunkt als außerordentlich krank und seltsam empfundenen »Veranlagung« nicht allein dazustehen, damals bedeutet hätte.

Lange her – und heutzutage, wo wir gar nicht mehr wissen, wie wir all die Gruppenadressen und Termine noch in der SZ unterbringen sollen, kaum noch nachzuvollziehen, das Gefühl, sich wie ein Alien in der Gesellschaft zu bewegen.

Nee, wirklich: Der angestaubte Spontispruch »Allein machen sie dich ein!« hatte schon seine Berechtigung.

Und auch, wenn ich mich mit Vorliebe über SM-WGs und Gruppengründungswut lustig mache – ich liebe diese Szene. Auch und gerade wegen des gewissen Schrat-Faktors!

Der Frühling ist nahe! Macht was draus und vernetzt euch schön.

Venceremos! meint: Jan :-)




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