Das Sicherheitsbrevier aus Schlagzeilen 77


Edge Play – Spiel auf Messers Schneide

»Barbarei ist immer das, was bei uns nicht gebräuchlich ist.«
Michel de Montaigne


Wenn man obigen Satz des Weisen aus dem Elfenbeinturm im Ohr hat, merkt man schon, daß gerade Grenzspiele schwer zu definieren sind. Für Vanillas ist SM per se Grenzspiel, für D/S-Leute ist das Zufügen von Schmerzen häufig an der Grenze, für pure Flagellanten wäre Erniedrigung eine Grenzüberschreitung.

Jeder Top, jeder Sub ist verschieden, für jeden liegen die Grenzen woanders, Edge Play findet vor allem im Kopf statt.

Womit wir uns hier beschäftigen, ist das Umsetzen von Sehnsüchten, von Hunger und Phantasien, die über den Rahmen, der durch das klassische SSCF vorgegeben ist, hinausgehen. Das sind die »verbotenen Spiele«, die Spiele mit Klingen und heißen Eisen, mit Vergewaltigung und erzwungenem Gehorsam.

Edge Play kann physisch stattfinden, durch Techniken, die gefährlich nahe an permanenten körperlichen Schaden herangehen oder sogar Todesgefahr bedeuten können. Beispiele dafür sind Spiele mit Waffen, Cutting, Branding, Atemkontroll- und Würgespiele, Bondages mit Seil um den Hals oder Suspensions, Inquisitionstechniken wie die Wasserfolter - kurz: Es umfaßt alle körperlichen Techniken, bei denen man sich ständig des Risikos bewußt sein muß, daß es gefährlich genug ist, um nicht mehr SSC zu sein.

Es umfaßt aber auch psychische Komponenten, wenn die Seele und die Emotionen des Partners berührt werden - hier reicht die Bandbreite von inszenierter Vergewaltigung über Verhörsituationen bis zu Spielen, die alte seelische Wunden einbeziehen können. Auch die völlige Machtübernahme (TPE) durch einen Partner ist hier ein Thema wie alle Szenen, in denen Widerstand, Ärger, »Nein sagen« eingebunden sind mit der vorherigen Vereinbarung, daß diese übergangen werden können. Können, nicht müssen.

Von der rechtlichen Seite gesehen wäre ein Spiel wohl immer dann Edge Play, wenn man von vornherein nicht mehr dafür einstehen kann, daß der Partner dauerhaft unbeschadet aus dem Spiel hervorgehen wird. Das gilt für körperliche, emotionale und psychische Sicherheit.

»Aber das tun wir doch eh nicht. Das ist auch nicht ok?!«, höre ich jetzt manche von Euch sagen. Ich behaupte, jede Sehnsucht ist erstmal ernstzunehmen und legitim. Der Hunger nach Grenzerfahrung, nach völligem Ausgeliefertsein, nach der Überschreitung des eigenen Willens ist bei vielen von uns vorhanden und kann nicht einfach weggeleugnet werden, weil er nicht in unsere saubere Außendarstellung als politisch korrekte SM-Menschen paßt.

Erst wenn der eigene Wille überschritten wird, empfinden manche tatsächliche Ohnmacht - bis dahin könnte man für sie den Top noch als »Wunscherfüller« bezeichnen, der im abgesprochenen Rahmen handelt, also nicht wirklich bedrohlich sein kann. Das Wissen um die Gefahr, wirklich verletzt werden zu können, die Furcht davor kann manche besonders erregen - ebenso wie das Gefühl, dem Partner sein Leben in die Hand zu geben, sich völlig auszuliefern.



Ein Beispiel:

Ein Geliebter hatte mir anvertraut, daß er davon träume, überwältigt und gegen seinen Willen benutzt und zu Dingen gezwungen zu werden, die er nicht mag. Wir hatten ein Spiel mit völliger Machtübernahme durch mich für die Dauer von einigen Tagen vereinbart.

Am zweiten Tag, auf einer Party, war es schon spät. Wir hatten eine schöne Session gehabt, er saß zu meinen Füssen und war entspannt, als plötzlich sechs Frauen eintraten, ihn hochrissen und ins Nebenzimmer schleppten. Ich kam dazu, stülpte ihm von hinten eine Maske über und flüsterte in sein Ohr:

»Du hattest Deinen Spaß heut schon. Jetzt interessiere ich mich nicht mehr für Dich und Deine Gefühle, jetzt will ich mal nicht mehr auf Dich achten, sondern Deinen Körper pur zu meinem Vergnügen benutzen. Deine hübsche Fresse ist mir egal, die sieht jetzt eh keiner mehr. Du hast einmal eingewilligt, jetzt frage ich nichts mehr ...«

Streng auf eine Liege gefesselt, von den Frauen zusätzlich bewegungslos niedergehalten, bekam er von mir dann ein Piercing in die linke Brustwarze gestochen: Ein kleiner Ring wurde eingesetzt, damit eines seiner Tabus gebrochen.

Während der nächsten anderthalb Stunden erlebte er völlige Mißachtung. Er hatte Gelegenheit, seine Ohnmacht zu spüren, sich zu wehren, zu schreien, zu toben, extremen Schmerz zu erfahren ...

Hinterher nahm ich ihm die Maske ab, er sank mir schluchzend in die Arme, weinte sich in wiedergewonnenem Schutz und Wärme noch einmal richtig aus. Nach einer langen Weile richtete er sich auf, sah mich an mit strahlenden, frisch geputzten Augen und sagte: »Danke für Deine Grausamkeit und Härte. Du hast mir einen Traum erfüllt!«

Der Ring wurde am nächsten Morgen wieder rausgenommen, er mag eben keine Piercings, doch noch heute, viele Jahre später, trägt er ihn an einem Kettchen um den Hals - nicht weil ich es sage, sondern weil er für ihn selbst ein Symbol geworden ist für die gelungene Grenzüberschreitung.



Bevor ich als Top so eine Szene angehen kann, muß ich die »soft spots«, die empfindlichen Stellen an meinem Gespielen ermitteln. Dies geschieht durch genaues Zuhören und Beobachten während unserer »normalen« Spiele oder bei Gesprächen, die sich um Phantasien drehen. Wenn bei der Erwähnung bestimmter Techniken ein Schauer der Angst über den Geliebten läuft, aber doch nachgefragt wird, werde ich hellhörig, lasse fallen, daß ich mich damit bereits auseinandergesetzt habe und zu gegebener Zeit darauf zurückkommen werde. Ich kann auch selbstbestimmte Phantasien einbringen, kurz andeuten, ich hätte da eine Geschichte gelesen, ein Photo gesehen, das sich mit der fraglichen Variante auseinandersetzt ...

Dann lasse ich das Thema wieder fallen, gebe dem Sub Zeit, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, sich mental vorzubereiten, darüber nachzudenken. Die Saat ist gelegt, jetzt lasse ich sie entspannt aufgehen.

Insbesondere wenn ihr merkt, daß viel Angst im Spiel ist: nichts forcieren, dem Sub viel Zeit lassen, seine Phantasien dazu wachsen zu lassen. Dann kommen der Hunger und die Lust schon von selbst. Ich selbst greife sie dann in geeigneten Augenblicken auf und baue sie in eine Szene ein.

Edge Play stellt hohe Anforderungen - am besten ist es, wenn erfahrene Spieler (auf beiden Seiten) beteiligt sind, die bereits geübt sind in der unabdingbaren Kommunikation, dem »Aushandeln« vor und während einer Session, und die auch das Auffangen und Wieder-in-die-Realität-zurückholen danach verstehen. Wer mit potentiellem körperlichem Widerstand und mit Gewalt und Zwang spielt, muß sich im Vorfeld darüber im Klaren sein, daß die Gefahr körperlicher Verletzungen oder auch seelischer Schäden auf beiden Seiten möglich ist. Wer gerade erst in die Szene schnuppert, kann dies noch nicht einschätzen und sollte daher von Edge Play die Finger lassen. Wer so weit ist und sich wirklich einlassen kann, muß wissen, daß nach dem Abschluß einer Szene wieder beide die Verantwortung tragen für das, was passiert ist, daß für das Ziel, für das Umsetzen der Phantasie zeitweise die körperliche Sicherheit einvernehmlich zurückgestellt wurde.

Eine Voraussetzung für gelungenes Grenzspiel ist normalerweise eine bestehende Beziehung (das kann auch eine Spielbeziehung sein, nur gut kennen sollten sich die Partner), in der das Grundvertrauen bereits etabliert ist. Der oder die Dom muß gelernt haben, die Zeichen des Subs zu lesen und richtig zu interpretieren. Die eigenen Emotionen müssen unter Kontrolle sein, dies ist bei Widerstandspielen besonders wichtig. Ich darf nicht mit echter Verletztheit oder Aggression reagieren, auch wenn mein Sub mich beleidigt oder beschimpft oder gar um sich tritt und schlägt. Und darüber hinaus muß ich als Mistreß in der Lage sein, meinem Partner zu vermitteln, daß ich Gründe habe, ihn zu fordern, daß ich alle seine Reaktionen haben will und mit ihnen umgehen kann, mit der vollen Bandbreite von Geilheit bis zu Tränen oder Wutausbrüchen. Während der Szene muß die Souveränität gewahrt sein, damit der Sub wirklich loslassen kann, auch hier ist Selbstbeherrschung beim Top vonnöten. Falls ich mich von verbalen Ausfällen tatsächlich getroffen fühle, muß ich das während der Szene wegstecken und kann es höchstens in der Nachbereitung hinterfragen. Häufig ist es dann aber gar nicht mehr nötig, da wir beide gemerkt haben, daß die Beleidigung nicht an mich gerichtet war, sondern an meine Persona während des Spiels.

Es gibt aber auch Dinge, die nicht in jedem Fall unter Edge Play einzuordnen sind. Gerade wenn man neu ist in der SM-Szene, erst angefangen hat, SM zu erleben, glaubt man als Sub manchmal, man müsse bereit sein, irgendwann »alles« mitzumachen und zu ertragen. Man sieht seine Beziehung als Weg, den Master, die Mistreß als Mittel, einen dahin zu bringen, alle Grenzen fallen zu lassen. Dem ist nicht so! Es gibt keinen Grund, etwas je auszuprobieren, das einen völlig abstößt, das zu bedrohlich ist oder an alte Erlebnisse schlimmer Art rührt. Wenn man so etwas trotzdem von sich verlangt oder dies zu früh tut, kann es einem nicht nur den Spaß an SM nehmen, sondern darüber hinaus noch Schäden an der Psyche hinterlassen, das Selbstwertgefühl beschädigen.

Ich erwähne das, weil der Hunger, der uns gerade, wenn wir neu sind, treibt, ein schlechter Ratgeber ist, der einen verführt, nicht mehr genug auf sich selbst zu achten.

Hier sind die Fähigkeiten der Tops gefragt, die erfahren genug sein müssen, um einzuschätzen, wann eine Wanderung an die Grenzen angebracht ist und wie speziell dieser Partner an bestimmte Dinge heranzuführen ist. Auch wenn es vermeintlich »nur« um neue erweiterte Techniken geht, kann das Einlassen auf diese vom Sub einen mentalen Schritt fordern, den er/sie sich allein noch nicht zutrauen würde. Die Mistreß kann hier bestärken und durch (vermeintlichen) Zwang, gezieltes Fordern, den Schritt erleichtern, ob es sich nun um ein Set neuer Klammern handelt oder um komplexere Dinge wie Sinnesausschluß oder Spiele mit dem Vertrauen des Subs.

Wenn es funktioniert, wenn ein Spiel gut vorbereitet die nötige Tiefe erreicht, entsteht so etwas wie ein besonderer Raum, ein Tunnel um euch beide, in dem der oder die Sub weiter mitgehen und höher fliegen kann, als sie es sich je vorstellen konnten. Dann ist das Erforschen der Grenzen befreiend für alle Beteiligten und birgt besonders für den Top die größte Belohnung in sich, seinen Sklaven, seine Sub an der Seele zu berühren.

Andrea Grimme




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