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Folsom Europe 2004


Am 4.9.2004 war Premiere – die erste Folsom Europe, nach dem Vorbild der Folsom Street Fair in San Francisco, fand in Berlin statt und SMart Rhein-Ruhr war dabei. 14 SMarties hatten sich gemeldet, um den Info-Stand aufzubauen und zu betreuen. Weitere SMarties haben an dem bunten Fest teilgenommen, darunter eine Überraschungsdelegation von SMart Münster und einer der Gründer von SMart Rhein-Ruhr, der heute in Berlin lebt. Um 12 Uhr und bei sonnigem Spätsommerwetter begann das Straßenfest. Nach und nach trudelten die Besucher ein; ihre Zahl hatte bis zum Abend die Erwartungen der Veranstalter weit übertroffen. Überall herrschte eine fröhlich ausgelassene Stimmung, und die Organisation vor Ort war professionell. Eine amerikanische Delegation überreichte einen Originalstein der Folsom Street – ein schönes Zeichen der Verbundenheit zwischen der Szene in San Francisco und Berlin. Zu unseren Standbesuchern gehörte auch der amtierende deutsche »Mr. Leather«; die Folsom Europe hat dazu beigetragen, dass die schwule und die heterosexuelle SM-Subkultur noch näher zusammenrücken können. Nächstes Jahr wird es wieder eine Folsom Europe in Berlin geben; bereits während des Festes haben sich Teilnehmer für 2005 angemeldet. Die erste Folsom Europe erfolgreich realisiert zu haben, darauf waren alle Beteiligten stolz. – Eben: leather pride.

Mark, Linda und Klaus Martin (SMart Rhein-Ruhr)



Folsom Europe – oder: Was passiert, wenn man laut »Hier!« schreit


Eigentlich wissen wir ja, was passiert, wenn man unüberlegt »Das machen wir mit links!« brüllt. Trotzdem konnten wir nicht an uns halten, als es um die Organisation des BVSM Standes auf der Folsom Europe 2004 ging. Nach dem Realtitätsschock kam schnell die Einsicht: »Zusammen packen wir das.« So setzen wir uns frohen Mutes den »Infostandeltern«-Hut auf, legten los und wurden bald vom Dauergast aller Organisatoren beehrt: Darf ich vorstellen: Mr.Murphy – Organisator, Organisator – Mr. Murphy. Dieser liebenswürdige, allseits gern gesehene Gast bringt gerne Geschenke mit: Kleine Probleme, dusselige Probleme, unlösbare Probleme, Riesenprobleme, selbst- und fremdverschuldete Probleme, billige, teure und selbstverständlich saudumme Probleme. Kleiner Blick in die Liste der Gefallenen gefällig? Wir betrauern zutiefst den Tod zweier Festplatten, eines Motherboards, einer Mailadresse, eines Handys, sämtlicher Daten, unzähliger Nerven, nicht zu nennenden Mengen an Rauchwaren sowie den Tod des Traumes von niedrigen Telefonrechnungen, anständigem Essen, ausreichendem Schlaf und der ständigen Präsenz von logischen, detaillierten, weiterhelfenden Antworten innerhalb der benötigten Zeit.

Man mag meinen, dass dieses nach einer tief verwurzelten, unbewussten und nicht ausgelebten realmasochistischen Ader klingt. Das wäre sicherlich der Fall, gäbe es da nicht: die kleinen, stillen Helferlein; unvermutete Lösungen; die Schokoladenindustrie als auch den besten aller Begleiter: gute Freunde; ein sehr, sehr, ausgeglichener Partner und eine Mitorganisatorin, die genauso schräg im Quadrat tickt wie man selbst.

Und so kam es dann, das am 4. September morgens um 10 Uhr auf der Fuggerstraße alle versammelt waren, die ihr Kommen zugesagt hatten; der Stand war schon seit 8:30 aufgebaut; es war entgegen unserer Befürchtungen trocken und freundlich und fast alles notwendige Material am Ort. Vergessenes oder nicht Bedachtes wurde lebhaft unter den Standnachbarn ausgetauscht, improvisiert oder schlichtweg aus der Luft gezaubert. Mit gebündelter Kraft entstanden fast pünktlich, nämlich auf die Sekunde nur 20 Minuten nach Beginn der ersten Folsom Europe vier Informationsstände. Den Reigen begann SMart Rhein Ruhr, gefolgt von BDSM Berlin und daneben, verbunden durch einen Sitz-, Schau- und Klönschnackstand wir, die unerschrockenen Helden der BVSM.

Von unserem Platz aus hatten wir direkte Sicht auf eine der Absperrungen, die die Folsom eingrenzten. Dort waren neben den Ordnern die »Schwestern der pepertuellen Indulgenz« zu finden, die an den Eingängen Spenden für die Förderprojekte sammelten. In diesem Jahr waren die Spenden für eine Kindertagesstätte in der Fuggerstraße und die AIDS-Hilfe in Polen bestimmt. Die Kindertagesstätte ist eine private Initiative, die HIV infizierte und an AIDS erkrankte Kinder betreut.

Mit viel Geschnatter und einem freundlichen Lächeln klapperten die schrill-bunt gekleideten Schwestern jedem neu angekommenen Besucher mit ihrer Sammelbüchse unter der Nase und verteilten als Dankeschön die Folsomsticker. Diese Sticker wurden auf Rucksäcke, Jacken oder Hosen geklebt oder gleich auf der nackten Haut getragen. Auch wenn diese Sticker den Nebeneffekt hatten, das ihr Träger an den Getränkeständen einen Rabatt bekam, so zeigte das offene Tragen vor allem eines: »Ich bin dabei.«

Wenn auch in den ersten Stunden die Besucher eher zögerlich eintrafen, kamen am Nachmittag mit der Sonne ganze Scharen von ihnen. Was für ein Anblick: überall tummelten sich die verschiedensten Leute, schlenderten über die Fugger- und Welserstrasse, klönten, aalten sich in der Sonne, sahen und wurden gesehen – waren die meisten doch in ihren feinsten Outfits erschienen. Ein Traum.

Es gab einiges zu schauen, waren doch viele der Berliner Geschäfte mit einem Verkaufstand vertreten. Zwischen all dem Leder, Latex und Lack, Spielzeug und anderen hilfreichen Dingen waren die Aidshilfe, Maneo, die Polizei, die »Böse Buben e.V.« und viele mehr mit ihren Informationsständen zu finden. Bei einem Rundgang am späteren Nachmittag entdeckten Jayneway und ich etwas ganz Tolles: den Stand von Bootblack-Karl aus London, der sich der Pflege aller Stiefel und Boots auf der Folsom verschrieben hatte. Nach kurzem Zögern, ob auch Frauen diesen Dienst in Anspruch nehmen dürften, setzte sich der Captain in einen der herrlich bequemen roten Sessel und bekam sogleich die beste Schuhpflege aller Zeiten. Ein herrlicher Anblick! Auch wenn sie beteuert, doch gar nichts getan zu haben ... sie hat es sich redlich verdient. Frisch gewienert und poliert ging es dann weiter zum gemeinsamen Hauptquartier von Folsom Europe e.V. und Folsom Events, bei dem Jayneway sich dann mit den Folsom Plakaten eindeckte und wir fast in die Fotosession mit Mr. Leather geraten wären.

Alle Stände hatten regen Zulauf. Der BVSM Stand fiel nicht nur durch die Flyer zum ICD 10 und die Postkarten zum SM-Finder auf, sondern auch durch eine bunte Zusammenstellung von schwulen, lesbischen und Hetero-SM-Büchern. Dass auch lesbische Bücher auslagen, verführte einige Frauen zu einem Gespräch. Als bester Anknüpfungspunkt erwiesen sich zweierlei Dinge: Der Zwischenstand durch die Deutschland-Karte mit Markierungen für jede/s uns bekannte BDSM-Gruppe/Verein/Treffen, vielen Flyern/Vistitenkarten/Infomaterial von Gruppen aus Deutschland, der Schweiz und Österreich und natürlich durch die an den Seiten vorhandenen Sitzbänke im Schatten. Zweitens die Werbung für den am folgenden Tag stattfindenden Vortrag von Svein Skeid, dem Organisator des »Revise F65«-Komitees zu seiner Arbeit gegen die Diagnoseschlüssel in Norwegen und der Europäischen Union.

Das Thema ICD 10 war überhaupt der Renner. Jeder Mensch, dem wir erklärten, dass seine persönlichen Daten unabhängig vom Grund seines Arztbesuches an die Krankenkasse geleitet werden, fiel aus allen Wolken. Kaum jemand, der das Informationsmaterial nicht mitnahm. Leider kam auch immer wieder die Argumentation, dass man an den Diagnoseschlüssel ja doch nichts ändern könne, bzw. dies, ähnlich wie bei die Streichung des Paragraph 175 (Homosexualität), Jahrzehnte dauern könnte.

Insgesamt acht Personen wechselten sich darin ab, am, im und rund um den Stand Gespräche zu führen. Mit dabei die drei Vorstandsmitgliedern Arne, Manuela und Sebastian, RubberPit – der mit einer Anreise von fast 1000 Kilometern den Vogel abschoss ˆ, Peter sowie Verstärkung durch Martin von der Libertine Wien, so dass die Besatzung sogar international war.

Zusätzlich kam es auch zu einem regen Personal-, Unterlagen-, Lebensmittel- und Dekorationsaustausch der Stände, so dass es keinem an etwas mangelte. Nebenbei blieb manche Zeit um Kontakt zu anderen Gruppen zu knüpfen. Bei Jayneway waren das Maneo und ein Psychologe in Zusammenhang mit ihrer Arbeit für das Notfalltelefon, der Stino-Toilettenmann, sowie ein paar Petplayer, die sie auf der Folsom das erste Mal persönlich getroffen haben.

Nach dem Abbau gegen 23.30 Uhr sind wir dann noch ein Stündchen in einer Szenekneipe verschwunden, wo sich fast die kompletten Standbesatzungen wieder fanden. Eigentlich war danach die Folsom Europe vorbei und die Arbeit für die BVSM erledigt. Eigentlich, – hätten Jayneway und ich uns nicht noch kurzfristig vor der Folsom entschlossen, Sveins Angebot, einen Vortrag zum ICD 10 zu halten, in die Wirklichkeit umzusetzen. Und so kam es, dass aus dem Morgen danach der Morgen davor wurde. Ausschlafen? Weit gefehlt, galt es doch, die am Freitag- und Samstagnachmittag gehamsterten Einkäufe in ein nahrhaftes, abwechslungsreiches und schmackhaftes Etwas zu verwandeln, in den Sonntags-Club zu transportieren und dort in ein Buffet zu verwandeln. Während des ganzen Schnippelns, Tischerückens, Dekorierens und aller anderen notwenigen Handgriffe gab es manchen Moment, wo wir unsere Teilnahme an der Afterhour bereuten – trotzdem schafften wir es dann doch irgendwie. Vereinfacht wurde dies aber durch die vielen Fragen und Anmerkungen zum Vortrag von Svein, die den zeitlichen Rahmen etwas sprengten. Interessanterweise erschienen zu diesem Vortag ungefähr 30 Personen aus dem Hetero SM Bereich, jedoch, trotz massiver Werbung durch Svein persönlich und etwa 500 verteilter Handzettel, keine homosexuellen SMler. Eigentlich schade, da die anschließende Diskussion mit der gemeinsamen Erkenntnis und Willensbekundung endete, dass eine Änderung der Diagnosen zwar nur ganz langsam, aber doch möglich ist. Während ich zwischen Küche und Buffet hin- und hersprang, wurde aus dem gemütlichem Ausklang am Buffet dann noch ein reger Austausch, der im Nachhinein von allen Beteiligten als Vernetzungstreffen bezeichnet wurde. Irgendwann war das restliche Essen unter die Reisenden verteilt, alles gespült, zurückgestellt, eingepackt, der Entspannungsdrink ausgetrunken und die letzte Zigarette geraucht. Das ersehnte und verdiente Ende von zweieinhalb Monaten Arbeit war da.

Und damit wären wir am Ende unseres Berichts.

Halt, da fehlt doch noch was ... Moment, wo steckt sie denn ... die Lobhudelei an alle, die geholfen haben, das wir jetzt so entspannt und zufrieden auf dieses ereignisreiche Wochenende zurückblicken können ... da ist sie:

Danke, Danke und nochmals Danke! Für jeden übersetzenden Geist; jedes aufmunternde Telefonat; jeden hilfreichen Tipp; jedes geliehene oder gespendete Buch für die Auslage am Stand; die Hilfe bei der Umsetzung der T-Shirts für die Standbesetzung; jegliches geliehene, aus der Luft gezauberte, kilometerweit geschleppte Ding, das wir vergaßen und wie durch Zauberei doch zur Verfügung hatten; die Blumen; jeden Kilometer und jede Stunde, die manche auf sich nahmen, um uns vor Ort zu unterstützen; jede Übernachtungsmöglichkeit; die geliehenen Bänke & den Tisch im Infostand; den kostenlosen Veranstaltungsort für den Vortrag; den Verzicht auf einen freien Sonntag; die Möglichkeit der Teilnahme; Antworten auf die 100-ste Frage; jegliches Schleppen, Besorgen, Schnippeln, Transportieren, Organisieren, Da-Haben, Mitbringen, Da-Sein, Mitmachen. Kurz gesagt: DANKE für alles und an alle!

Für Jayneway und mich bleibt als Fazit: viel Arbeit, viele neue Leute, viel Vergnügen und ein Koffer voller Anekdoten und Erinnerungen. Und, dass wir es nächstes Jahr wieder tun werden ...

Wie sagt man so schön: Nach der Folsom ist vor der Folsom! Macht euch bereit, auch nächstes Jahr werden wir euch erneut mit unseren Forderungen nach Personal und Informationsmaterial aus den Gruppen auf die Nerven fallen.

In diesem Sinne

Raven Lee Morray
und
Andrea Juchem aka Jayneway




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